Gleich zu Beginn muss ich erwähnen, dass ich nie einen Essay anekdotisch beginnen wollte. Vor allem deswegen nicht, weil mir immer wieder gesagt wurde, dass ich ein sogenannter ‚G’schichterldrucker‘ bin. Ein ‚G’schichterldrucker’ zu sein gehört zu den klassischen westlichen Vorurteilen gegenüber Menschen aus dem Nahen Osten und macht mich – so benannt – automatisch zum ‚Orientalen‘. Der Geschichtenerzähler1 ist der Fantasietäter, der erzählt, um der bitteren Realität des Lebens zu entfliehen – wie Scheherazade in Tausendundeiner Nacht. Hierzu passt auch, dass ‚wir‘ – die ‚Orientalen‘ – ‚nur‘ über eine mündlich tradierte Kultur verfügen und deshalb im Gegensatz zum ‚Westen‘, der eine Schriftkultur pflegt, ‚nur‘ Geschichten erzählen. Die Tatsache, dass das Alphabet im ‚Orient‘ erfunden wurde, interessiert im ‚Westen‘ häufig nur insofern, als es auch nur innerhalb des Bildungsbürgertums den Mythos einer einstigen Hochkultur bestätigt, die nun seit über 70 Jahren zu den sogenannten Krisengebieten der Erde gezählt wird.
Wem gehört die Welt? Sie gehört nicht dem ‚Orient‘, sondern dem ‚Westen‘, nicht der flüchtigen, mündlichen Tradierung, sondern der statisch fixierten Schrift. Sie gehört den Zivilisierten und nicht den Barbaren. Das steckt zwischen den Zeilen dieser Zuschreibungen und ist kein gutes Omen, um mit einer Geschichte einzusteigen – vor allem nicht mit einer autobiographischen. Dass das europäische Asylverfahren ebenfalls mit diesen Bildern des ‚Anderen‘ arbeitet und ‚uns andere‘ so erst recht zu ‚G’schichterldruckern‘ macht, die brav und überzeugend ihre Geschichte vorbringen müssen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Ich beginne trotzdem anekdotisch: Flucht. Ich bin geflohen und mit mir gleichzeitig viele andere Menschen ohne Absprache. In den Asylheimen in der österreichischen Peripherie – oder wie ich sagen würde: Pampa – hatten wir, Geflüchtete aus Afghanistan und ich aus dem Iran, anfangs große Angst. Unser Asylheim lag tief in der Natur und wir gingen oft zu Fuß durch die Wälder, um die Stadt zu erreichen. Da fürchteten wir uns furchtbar vor den wilden Tieren, die wir in diesen Wäldern vermuteten. Wir waren aus unseren Ländern daran gewöhnt, diese Welt noch mit den Tieren zu teilen. Wir waren es gewöhnt, dass wir gejagt werden könnten – von Menschen und Machthabern immer –, aber auch von wilden Tieren. Nach monatelanger Angst vor den Geräuschen in den österreichischen Wäldern stellten wir aber fest, dass wir hier unter Jägern wohnen und diese Jäger über Jahrhunderte der Sesshaftigkeit alle wilden Tiere ausgerottet hatten. Diese Erkenntnis war damals beruhigend
für uns von Menschen Gejagte, die Geflüchtete genannt werden. Aber Jahre später ließ mich diese Erkenntnis erschaudern. Erschaudern vor einer Zivilisation der Jäger, der Täter, die sich selbst seit Jahrhunderten ihrer Vielfalt beraubt hat. Eine Zivilisation, die ihre Feinde, Mensch wie Tier, bis zur Vernichtung jagt. In deren zivilisatorischer Utopie die Tiere und Pflanzen einen Platz in den Zoos zugewiesen bekommen. In der die Natur gezähmt und unters Joch gespannt ist, in der sie primär als Asservatenkammer betrachtet wird. Von dieser Perspektive aus, gehört die Welt weiterhin den Jägern.
Natürlich wird die Natur auch im Nahen Osten ausgebeutet. Erdöl spielt dabei eine wesentliche Rolle. Allerdings gibt es keinen vergleichbaren umfassenden Herrschaftsanspruch über die Natur. Die Oberhand bei der Ausbeutung des Nahen Ostens hatten früher die westlichen Mächte. Mittlerweile haben diese Aufgabe tyrannische und korrupte Machthaber übernommen. Beispiele gibt es dafür viele, hier sei das des Irans ausgeführt.
Nach der Revolution 1979 lautete die Botschaft: Bis jetzt wurden wir und unser Öl ausgebeutet, ab jetzt halten wir alles in der Hand. Nun ist es das islamistische Regime, das seine eigene Bevölkerung ausbeutet und unterdrückt – stets mit dem Hinweis, dass es sonst der Westen wieder tun würde. Konstruiert wurde die entsprechende anti-westliche Propaganda von Islamisten im Iran bereits vor der Islamischen Revolution mit Hilfe von iranischen Intellektuellen – paradoxerweise ebenfalls basierend auf den Begriffen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘. Statt einer fundierten Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit, um dadurch eine Grundlage für eine egalitäre Gesellschaft zu schaffen, begannen sie eine hetzerische anti-westliche Propaganda zu forcieren, die nur eine Utopie im Sinne hatte, nämlich die einer islamischen Herrschaft. Wichtige Grundlage dieses geschaffenen Utopie-Zerrbildes ist ebenfalls die gedankliche Verankerung eines Bildes der ‚Anderen‘ als Gegensatz zu ‚uns‘, eine Darstellung des orientalischen Menschen als gläubig-spirituell im Gegensatz zu den materialistisch-rationalistisch-kaltblütigen Westlern. Das konstruierte und zum Einsatz gekommene Bild der ‚Anderen‘, des ‚teuflischen Westens‘, fungiert bis heute als wichtige Grundlage und Angstmacher, jedweden Wunsch einer demokratischen Utopie im Hier und Heute zu diskreditieren. So wurde aus dem Iran, der in den 70er Jahren am Sprung zum Aufstieg in eine ‚Erste Welt‘ war, fünfzig Jahre später ein korrupter, diktatorischer Sumpf – trotz des anhaltenden Ölreichtums.
Chuzestan etwa zählt zu den ölreichsten Gebieten des Iran – die Menschen selbst leben dort unter den elendigsten Bedingungen. Die Ölfelder verpesten Umgebung und Wasser, tagtäglich gibt es Brände in den Fabriken der Ölindustrie. Ölpest und Explosionen sind Teil des Alltags. In der Ressourcen-Schatzkammer des Landes leben die Menschen kürzer und schlechter als anderswo im Land. In wessen Taschen fließen die Milliarden aus den Ölverkäufen? In die der Bevölkerung wohl nicht.
Wiederkehrende, vor allem in Form von Protesten geäußerte Wünsche in der Bevölkerung lauten, an diesem Reichtum der Natur beteiligt zu sein, ein würdevolles Leben zu führen, doch diese Proteste wurden wiederholt blutig niedergeschlagen. Auch ein anderer Wunsch ist mittlerweile in Teilen der iranischen Bevölkerung zu vernehmen: ohne Reichtümer, insbesondere Öl, zu sein, dafür aber frei und demokratisch zu leben. Korruption ist ein Elitenphänomen vieler autokratischer Regime, egal wie arm oder reich – dennoch glauben heute viele Menschen im Iran, ohne Öl würden sie nicht vom ‚Westen‘ und ihren eigenen Machthabern ausgebeutet werden, weil das Land völlig uninteressant für diese wäre. Folglich hat sich unter zahlreichen Menschen, die nicht Teil der politischen Eliten sind, der Wunsch herausgebildet, lieber auf diese Naturreichtümer zu verzichten und dafür etwas wirklich Wertvolles zu erreichen: Demokratie. Das iranische Regime stellt dieser Unzufriedenheit den Begriff der ‚islamischen Gerechtigkeit‘ entgegen, eine Utopie, ein Paradies, das im Jenseits nach dem Tod erreicht werden soll. Eine bessere Situation im Hier und Jetzt ließe sich leider nicht herstellen, heißt es. Diese Fokussierung auf ein Leben nach dem Tod bedeutet auch, dass eine Verbesserung unter islamischer Herrschaft für die Bevölkerung im Hier und Jetzt quasi gar nicht mehr notwendig ist. Die Welt selbst ist bloß eine Brücke ins Jenseits und gehört, wenn überhaupt irgendwem, den Toten.
Tatsächlich aber gab es auch weltliche Ideologien, die eine entgegengesetzte Utopie schufen. In der Sowjetunion versuchten die Biokosmisten die Toten ins Leben und auf die Erde zurück zu holen: Sie strebten wissenschaftlich danach, die Unsterblichkeit zu erlangen und alle toten Menschen, die sich für die Revolution geopfert hatten und unterdrückt worden waren, wieder ins Leben zurückzuholen, um gemeinsam in dieser Utopie zu leben. Da sie wussten, dass die Erde kaum Platz für all diese Menschen bieten würde, waren auch Raumfahrtforscher an diesem Projekt beteiligt, um das Weltall zum Wohnen der Wiederauferstandenen tauglich zu machen. Den Lebenden gehört die Welt und nicht nur die Erde! Aus heutiger Perspektive ein ebenso emanzipatives wie paternalistisches Projekt.
Wenn erst tote Menschen und Tiere ihre Rechte bekommen, wie kann das in der Gegenwart funktionieren? Wenn ich auch unfreiwillig im Exil in Europa lebe, lebe ich damit – trotz aller auch in Europa vorherrschenden Armut und Ausbeutung – in einer real existierenden Utopie. Was diejenigen, die mir salopp ‚G’schichterldrucker‘ an den Kopf werfen, gerne ignorieren – mit Absicht oder auch nicht – ist, dass die überprivilegierte Situation der westlichen Welt oft auf Kosten von Natur und Menschen im sogenannten ‚Orient‘ herbeigeführt wurde. Die Wiege der Zivilisation ist zur traurigen Dystopie verkommen, aus der die Menschen heute zuhauf flüchten (müssen). Häufig ist Flucht, gerade die von den Ausgebeuteten zu den Ausbeutenden, einfacher als ein grundsätzlicher globaler Systemwandel. Wenn wir aber weiterhin mit der Ausbeutung unserer Ressourcen fortfahren, wird auch Flucht bald keine Alternative mehr sein. Unser Leben in der gesamten Welt und im Iran ist heute eng verbunden mit dem Öl, Öl wiederum besteht aus toten Organismen, die uns tagtäglich umgeben. Diese Toten werden nicht lebendig. Werden diese Toten schließlich auch uns ins Totenreich holen? Ist die Erde nicht bald schon unsere Hölle? Wir machen uns die Erde durch den Klimawandel heiß und werden uns alle auf einmal in der Hölle wiederfinden – obwohl wir gläubig und gütig gelebt haben?
Alle laufen, weg
Heiß ist alles
Sie kratzen aber noch
Die Wolken sie
Die Wolkenkratzer leer
Weinen ihnen nach
Nachweinen
Bewohner suchen sie
Unter Wasser stehend
Eldorado ähnlich
Beheimaten die Fische als Bewohner
Die Millionen Jahre später zur Einheit werden Die Millionen Jahre davor zur Einheit wurden Um zu schenken den Menschen
Ihren Reichtum
Jetzt die Verursacher des Reichtums
Leben in diesem Reichtum
Unter dem Wasser
Aber bald auch sie tot
Die Fische
Überall
Weil die Temperatur des Wassers steigt Menschen tot
Tiere tot
Doha
Dubai
Shanghai
New York
Alles wird stehen Unter Wasser Leer
Oder eher nur Bewohnt von Tod
Letzten Endes sind dann die Flucht von der Erde und das Wohnen im Weltall möglicherweise bald tatsächlich keine Utopie mehr, sondern eine Notwendigkeit, wenn die Erde durch fossile Energien und weltweite Ausbeutung von Natur und Mensch weiterhin zugrunde gerichtet wird. Während die Biokosmisten heute nicht mehr unbedingt im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sieht man nicht nur auf Fridays for Future Demos regelmäßig Plakate mit der Aufschrift „Wir haben keine zweite Erde!“. Nun müssen die Jüngeren die Stimme erheben und ihre Welt gemeinsam mit uns und vor uns retten. Jetzt ist es Zeit, eine neue Utopie zu entwerfen, die unsere Zukunft gestaltet oder ihr eine Richtung gibt.
[1]
Der folgende Text stellt mich vor eine Schwierigkeit: Den Männern gehört die Welt, heute nach wie vor, sprachlich bildet sich das leider auch dementsprechend ab. Alles in weiblicher Form zu schreiben, wäre hier aber unfair und falsch, weil im Folgenden nahezu immer Männer gemeint sind, die für die Missstände verantwortlich sind.
Amir Gudarzi graduierte an der einzigen Theater- schule im Iran. Seit 2009 lebt Gudarzi unfreiwillig im Exil in Wien, wo er ein Studium in Theater-, Film- und Medienwissenschaften abschloss. 2017 gewann er den exil-DramatikerInnenpreis. Gudarzi erhielt zahlreiche Dramatik- und Literatur-Stipendien und arbeitet derzeit an seinem Debütroman. In seinem neusten Stück WONDERWOMB betreibt er eine poetische Untersuchung der weltweiten Handelskreisläufe von Erdöl.