Letztes Jahr verbrachte ich den Sommer in einem geliehenen Schrebergarten an der Havel. Zu der Zeit beendete ich gerade meinen Roman Kein Teil der Welt, in dem ich mich mit dem Aufwachsen bei den Zeugen Jehovas beschäftigte. Bei einem Spaziergang durch den verdorrten Sacrower Schlosspark kam mir die Idee, den Nachhaltigkeitsbegriff mit der Literatur zusammenzudenken. Morgens zog der Rauch brennender Wälder bis nach Berlin, tagsüber durften wir nicht gießen, weil das Havelwasser wegen Rekordniedrigstand abgestellt worden war, und nachts entluden sich manchmal Gewittersuperzellen, deren Blitze an das Stroboskoplicht einer Disko erinnerten. So hatte Jehova, der Gott meiner Kindheit, mit den Menschen aus dem Alten Testament kommuniziert. Ich fragte mich: Wollten der Rauch, die Blitze und der Donner mir etwas sagen? Wie kann ich eine Literatur für die Zukunft schaffen bzw. als Autorin einen gegenwärtigen, relevanten künstlerischen Kommentar liefern? Was bedeutet Nachhaltigkeit für das Erzählen?
Diese Fragen stürzten mich nach dem Erscheinen meines Romans, an dem ich sechs Jahre gearbeitet hatte, in eine tiefe Schreibkrise, denn eine erste Antwort darauf lautete, zumindest für mich: Romane schreiben fühlt sich gegenwärtig ungefähr so sinnvoll an, wie Glückskekse zu betexten. Warum ausgedachte pseudoreale Universen erschaffen, wenn die Realität überwältigender ist als die Fiktion? Warum dafür sorgen, dass das europäische Bildungsbürgertum sich am Wochenende weiterhin in die Sonne setzen kann, um ‚ein gutes Buch zu lesen‘, während die Welt ganz offensichtlich aus den Fugen geraten ist?
Stattdessen streikte ich vor der Akademie der Künste in Berlin werktags von neun bis dreizehn Uhr – immer dann, wenn ich normalerweise am Schreibtisch saß – und führte auf der Webseite meines Verlags ein Klimastreiklogbuch. Es war kalt, mein Rücken schmerzte, mein Umfeld beteuerte Unterstützung, fand meinen Streik aber eigentlich nur seltsam und peinlich. Oft musste ich an die Pfähle entlang der niederländischen Küste denken, bei denen in einem Logbuch festgelegt wird, wie weit sie sich im Laufe der Zeit von Meer und Dünenrand entfernen. Auf diese Weise kann man sehen, wie sich das Land verhält, um früh genug zu erkennen, ob irgendwo strukturelle Erosion eintritt. War ,Nachhaltiges Erzählen‘ vielleicht die Umkehr von Fiktion und Realität? Muss also, wenn das Fiktive nicht mehr in der Lage ist, von der Wirklichkeit zu erzählen, vielleicht das Reale erzählt werden, um uns die ökologische Krise zu vergegenwärtigen, die wir bisher viel zu sehr als Fiktion wahrnehmen? Und könnte ich davon erzählen, wie ich aufhörte, fiktiv zu schreiben, stattdessen nichts tue, außer mich selbst zum Pfahl zu machen, mich selbst in den Boden zu rammen, um dadurch wiederum das zu tun, was Schreibende immer schon taten – ein Maß für Erosion zu sein.
Dort vor der Akademie der Künste konkretisierte sich die Idee, ein bewohnbares Lastenrad zu bauen und damit durch Europa zu fahren. Ich hatte das Gefühl, mich bewegen zu müssen, eine unorthodoxe Suchbewegung zu starten, um etwas in Gang zu setzen, von dem ich gar nicht genau wusste, was es war. Tatsächlich baute ich ein Lastenrad komplett aus Industriemüll und fuhr damit einige Wochen im Sommer durch Norddeutschland. Ich weiß noch: Einmal wachte ich morgens in Lüneburg auf – in diesem dämmrigen Halbwachzustand dachte ich dort zum ersten Mal, die Frage „Was ist ‚Nachhaltiges Erzählen‘?“ beantworten zu können. Als ich mich dann jedoch aus meinem Schlafsack schälte, um es aufzuschreiben, war der Gedanke schon wieder verflogen. Ich fühlte mich oft unwohl auf diesem Fahrrad, ich war zwar in Bewegung, aber tat nicht das, was ich sonst tat, was mich extrem verunsicherte. Hinzu kam diese schwankende Position auf dem Fahrrad – erst im Nachhinein wurde mir klar, dass das Flüchtige, Schwankende genau die Perspektive ist, von der ich derzeit auf die Gegenwart blicke, dass die Verunsicherung genau die Position der Künstler*in im Anthropozän ist. Das Schwankende als neuen Standpunkt zu begreifen, von dem ich auf die Welt blicke, war wie der Anker, nach dem ich gesucht hatte.
Nach meiner Rückkehr bot ich gemeinsam mit Prof. Stephan Porombka an der Universität der Künste in Berlin ein Seminar an. Auch dort ging es um den Versuch, gemeinsam mit den Studierenden eine ,Ästhetik des Nachhaltigen‘ zu entwickeln und zu überlegen, welche Rolle Künstler*innen und ihre Produktivitäten dabei spielen können. Das Seminar war für mich wie ein kreativer Booster, weil es erste Antworten auf meine Fragen hervorbrachte – Antworten, die nicht sofort wieder verflogen. Einige davon habe ich hier zusammengefasst, es sind erste Gedanken auf einem mir selbst noch weitgehend unbekannten Feld:
An die Stelle des großen epischen Erzählens tritt das ,Nachhaltige Erzählen‘ als relevanter, zeitgemäßer Kommentar der Gegenwart. Es erzählt entlang des Flüchtigen, Zerbrochenen, Entkernten und entzieht sich dadurch dem Credo der ‚Ewigkeit‘ und dem damit verbunden Impetus des literarisch möglichst fossilen, über den Tod des – fast immer cis-männlichen – Autors hinaus sichtbaren Fußabdrucks. ‚Nachhaltige Literatur‘ zeichnet sich durch eine besondere Form der Unverfügbarkeit für den gegenwärtigen Literaturbetrieb aus, der Literatur nach Gattungen segmentiert und von Autor*innen, die ‚etwas werden wollen‘, weiterhin Romane erwartet. ,Nachhaltiges Erzählen‘ ist keineswegs nur Geschriebenes, sondern findet sich in allen möglichen künstlerischen Praktiken, die das Flüchtige meist sogar besser einfangen können als der Text, wie z.B. die Daumenkinovorführungen von Volker Gerling, die Gazpachomaschine des Architekturkollektivs GI/GA, offene Bücherschränke wie der von Trixy Royeck – überhaupt Street Art überall auf der Welt. Nicht das Studierzimmer, sondern die Straße ist das Zuhause des ,Nachhaltigen Erzählens‘. ‚Erzählen von Draußen‘, weil ‚draußen‘ auch ‚außen vor‘ bedeutet, das heißt außerhalb der kunstbetrieblichen Maschine. Und ,Straße‘, auch weil es sich aus dem Abgestandenen, Abgelegten, Ausgesetzten speist, von und mit dem erzählt, was wir ‚Müll‘ nennen. ,Nachhaltiges Erzählen‘ ist nie ‚Heißer Scheiß‘, sondern immer ‚Kalter Kaffee‘, aber: Was schmeckt in dieser heißen Zeit besser als kalter Kaffee? Das Schale, Muffige, Versiffte erhält im Angesicht der Gegenwart einen neuen Wert, der sich nicht aus dem inzwischen alt aussehenden, avantgardistisch Modernen speist, sondern zeitgemäß ökologische Krisen versprachlicht. ,Nachhaltige Literatur‘ hat nicht den Anspruch, das Rad neu zu erfinden. Sie ist wie Kassandra: Bis heute hört man ihr nicht zu, glaubt ihr nicht, nur dass sie sich inzwischen damit abgefunden hat und keinen Wert mehr darauf legt, von Krieger*innen angehört zu werden.
Und für mich persönlich ist das Biographische elementar in der ,Nachhaltigen Literatur‘: Als Erzählung von Tod und Vertreibung. Als Erzählung gegen die Pathologisierung des Weiblichen und die Stigmatisierung des Geflüchteten durch eine patriarchal-fossile Literaturgeschichte. Als Bekenner*innenschreiben zur Übersättigung an fossiler cis-männlicher Autorschaft. Als Werkzeug des Gegen- und Umschreibens von vermeintlich guten Stories, Happy Ends und Heldenreisen zukünftiger Patriarchen. Als Plädoyer für eine Dramaturgie der tausend glitzernden Scherben, an deren Rändern entlang unsere Gegenwart geschrieben, gelesen und neu zusammengesetzt wird.
Meine Suche ist nur eine erste Bewegungsfigur, die in Anlehnung an ressourcenschonende Handlungsprinzipien, als Ästhetik und künstlerische Praxis nicht nur die Brüchigkeit der Verhältnisse im Anthropozän nachweisen, sondern gleichzeitig damit experimentieren und neue Kreisläufe herstellen will. Die nach neuen Existenzformen sucht, die es der Literatur ermöglicht aus eben jenen Kreisläufen auszubrechen, die überhaupt erst zum Anthropozän geführt haben.
Stefanie de Velasco wuchs als Kind spanischer Einwanderer im Rheinland auf. Ihr Romandebüt Tigermilch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt. Von November 2019 bis Februar 2020 streikte sie vor der Akademie der Künste in Berlin für eine gerechtere Klimapolitik. Dann war sie mit einem selbstgebauten Wohnfahrrad unterwegs, nun schreibt sie eine Doktorarbeit zu dem Thema. Auf der Plattform Patreon ist sie auf ihrer Suche nach der Literatur der Zukunft zu begleiten.