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OPEN MIND Festival 2020

WEM GEHÖRT DIE WELT?

Welche Kunst wird aus einer privilegierten Position geschaffen? Und für welches möglicherweise wiederum privilegierte Publikum? Die globale Pandemie hat bestehende Ungleichheiten deutlich sichtbar gemacht – Sandra Chatterjee und Shruti Ghosh gehen im Gespräch akuten globalen und regionalen Phänomenen nach.

Restriktionen und Privilegien navigieren: Ein Gespräch mit Shruti Ghosh

von Sandra Chatterjee

Die Kathak-Tänzerin Shruti Ghosh und ich lernten uns im Zuge des derzeitigen pandemiebedingten Lockdowns über gemeinsame Freunde kennen – den Sänger Arko Mukhaerjee und den Schauspieler Joyraj Bhattacharjee. Zusammengekommen waren wir für verschiedene Online-Kollaborationen im Rahmen von Fundraising-Initiativen und performten in Online-Benefiz-Performances. Shruti lebte zu der Zeit in Nur-Sultan, Kasachstan, ich war in München, unsere gemeinsamen Freunde in Kolkata und anderen Teilen West-Bengalens. Nach mehreren Monaten der virtuellen Zusammenarbeit trafen wir uns erstmalig im August 2020 für ein (ebenfalls virtuelles) persönliches Gespräch über diese Zeit, über Fragen zu Privilegien, Überfluss, Restriktion, Mobilität und Mobilisierung sowie Verantwortung. Und obwohl es überwältigend erscheint, die Pandemie zu kommentieren, während wir noch mittendrin sind – wie Donatella Di Cesare schreibt: „Jedwede Diagnose wäre verfrüht.“ (2020: 12) –, ist es unmöglich dieses Gespräch zu führen, ohne die außergewöhnlichen Umstände mit zu bedenken, in welchen wir derzeit agieren, fühlen, denken sprechen, tanzen und schreiben.

Wir stehen vor einem epochalen Ereignis, das ein Vorher und ein Nachher markiert und schon jetzt das 21. Jahrhundert verändert hat – und sogar die Art es zu betrachten.
Di Cesare 2020: 9-10

Shruti: Ich habe mir viele Gedanken über den indischen Kontext gemacht, um zu verstehen, was sich in den letzten fünf Monaten verändert hat und wie. Die Probleme, die wir in den letzten Jahren hatten – größer werdende soziale Ungleichheit, die Situation der Wanderarbeiter*innen, vermehrte Suizide von Bauern und Bäuerinnen, steigende Preise, zunehmende interreligiöse Spannungen und Konflikte –, wurden von der Pandemie noch verstärkt. Kannst Du mir von der Situation in München/Deutschland erzählen?

Sandra: Das ist schwierig. Wenn ich zu den zwei weiteren Orten blicke, die ich als Heimaten betrachte oder betrachtet habe – also Indien und die USA –, werden die Privilegien, die wir in Deutschland haben, sehr deutlich. Aber auch hier haben sich bestehende soziale Ungleichheiten verstärkt. Und mir ist natürlich bewusst, dass es auch hier Menschen gibt, die durch die Pandemie große Probleme haben, z.B. Soloselbstständige, Künstler*innen und viele mehr. Allerdings verursacht es in mir Unbehagen, wenn ich beobachte, dass globale Ungleichheiten und die Privilegien, die wir in Europa und speziell in Deutschland vergleichsweise haben und die uns in dieser Krise helfen, nicht genug anerkannt werden.

Shruti: Mein Alltag in Kasachstan war sehr privilegiert: Ich arbeitete als Tanzlehrerin für die indische Botschaft und hatte dadurch Zugang zu dieser Infrastruktur. Ich lebte alleine in der Hauptstadt Nur-Sultan, einer relativ neuen Smart-City, und musste das Haus nur kurz verlassen, um das Nötige zu besorgen. Ich unterrichtete online und hatte ein Einkommen. Aber mein Partner, meine Familie und Freunde waren in Indien und ich sorgte mich, vor allem wenn ich die Nachrichten verfolgte. Mein Vertrag in Kasachstan war zu Ende und im Juli konnte ich mittels eines Rückholflugs nach Indien zurückkehren – eine sehr angespannte Reiseerfahrung. Einerseits wollte ich zurück und in der Nähe meiner Liebsten sein, andererseits hatte ich Angst. Nun bin ich nach zweijähriger Abwesenheit zurück in Kolkata und finde mich in einer durch die Restriktionen völlig veränderten Stadt wieder. Meine Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, ich kann niemanden treffen oder eine Bibliothek oder ein Restaurant besuchen. Ich vermisse meine Schüler*innen und die Routine, die ich in Kasachstan hatte.

Sandra: Ich verstehe diese Sorgen. Persönlich sind vor allem die Reisebeschränkungen und geschlossenen Grenzen schwierig. Der Großteil meiner Familie und meine Liebsten sind auch in Indien. Gleichzeitig habe ich beruflich davon profitiert, dass viele Events nun online stattfinden. Ich kann meine internationale Vernetzung voller ausleben. Aber allein über Internetzugang und erst recht über internationale Netzwerke zu verfügen, sind keine Selbstverständlichkeit, sondern Privilegien.

Shruti: Ja, das Home-Office selbst ist schon ein Privileg. Vor allem im indischen Kontext: Wie viele Menschen haben überhaupt die Möglichkeit, von Zuhause aus der gewohnten Arbeit nachzugehen und sich an die Restriktionen zu halten? Mit Sicherheit nicht diejenigen, die um zu arbeiten das Haus verlassen müssen, z.B. die auf Tageslohnbasis arbeiten oder die Wanderarbeiter*innen. Unser Zeitgefühl und wie wir unsere Zeit verbringen, hängt massiv mit den Ressourcen zusammen, auf die wir zurückgreifen können. Für diejenigen von uns, deren Existenzgrundlage gesichert ist, scheinen die Lockdown-Tage manchmal zu lang. Wir haben den Luxus uns zu langweilen. Diejenigen, die dieses Privileg nicht haben, kämpfen ums Überleben. Selbst wenn sie für einen Tag Essen haben, wissen sie nicht, wie es um den nächsten Tag steht.

Arme und Verstoßene lösen kein Mitleid aus; stattdessen erzeugen sie eine Mischung aus Wut, Ablehnung und Angst. Der Arme ist die Befreiung nicht wert, weil es sich bei ihm um einen gescheiterten Konsumenten handelt, um ein Minus in der schwierigen Bilanz, wie auch der Ausgestoßene nur ein unnützes schwarzes Loch darstellt. Jede Verantwortung für ihr Schicksal wird im Vorhinein abgewiesen, während Wohltätigkeit einem sporadisch bleibenden Elan folgt. Der sanitäre Rückzugsraum droht sich immer weiter auszudehnen. Die Ungleichheit zwischen Geschützten und Ungeschützten, die jeder Idee von Gerechtigkeit Hohn spricht, erschien selten so eklatant und unverfroren wie in der Coronakrise.
Di Cesare 2020: 38-39

Shruti: Ich bin auf diese Nachricht gestoßen: Ein Bauer hat eine seiner zwei Kühe verkauft – eine wichtige Einkommensquelle der Familie – für ein Smartphone, damit seine Kinder weiter lernen können (vgl. Singh 2020). Wer kann also das Angebot des Online-Unterrichts nützen? Viele Angebote, die Regierungen bereitstellen, sind genau deswegen auch absurd, weil sie so abhängig sind von der Digitalität, die sich auf bestimmte soziale und Altersklassen beschränkt.

Sandra: Ja, sogar in einem wohlhabenden Land wie Deutschland ist der digitale Divide v.a. in der Bildung bemerkbar. Allerdings: Unsere Zusammenarbeit in den Benefiz-Performances und auch die Fundraising-Initiativen finden online statt. Sie wenden sich an Menschen mit Privilegien, also mit Internetzugang, extra Geld und Freizeit, die für die Konzerte aufgebracht werden können. Gleichzeitig wird die Digitalität Instrument einer Art von Solidarität und des Austausches unter (bürgerlichen) Teilnehmer*innen aus verschiedenen Erdteilen, an dem wir durch unsere Ressourcen teilhaben können. Die Welt gehört also auf jeden Fall den Privilegierten. Die Frage ist aber doch: Was machen wir mit unseren Privilegien? Wie erkennen wir sie an, wie nützen wir sie?

Shruti: Wir müssen uns unserer Position kritisch bewusst werden, wenn wir uns an solchen Initiativen beteiligen. Ich weiß nicht, ob das die richtige Antwort ist. Neben technischen Aspekten und räumlichen Herausforderungen – wie aus dem Zimmer heraus zu performen, Internetverbindungen etc. – ist mir auch die Frage, was für eine Kunst wir produzieren, wichtig: Eine Kunst, die für eine bestimmte privilegierte gesellschaftliche Schicht gedacht ist. In den letzten fünf Monaten hatte ich das Glück, großartige Theater- und Tanzperformances zu sehen, die online zugänglich waren, meist gratis. Künstlerisch für mich sehr bereichernd! Wie steht es aber um eine Tänzerin, die im ländlichen Landesinneren West-Bengalens lebt und täglich nur für etwas Brot kilometerweit laufen muss? Die Frage nach Privilegien ist zentral!

Sandra: Gleichzeitig zeigt es deren Relativität. Privilegien vervielfältigen sich, wenn z.B. Menschen, die sonst aus finanziellen oder auch auf Grund von Visa-Bestimmungen nicht so häufig international reisen können, um Performances zu sehen, nun online teilhaben können.

Das Virus richtet die Scheinwerfer unbarmherzig auf die soziale Apartheid.
Di Cesare 2020: 37

Sandra: Du hattest mich anfangs nach der Lage in Deutschland gefragt. Es gibt hier eine Protestbewegung, die mir spezielles Unbehagen bereitet, obwohl ich glaube, dass es die Pflicht von Bürger*innen und Bewohner*innen eines Landes ist, Entscheidungen der Regierung kritisch im Blick zu behalten. Mit dem Tragen der Maske als Aufhänger protestieren sie für ihre persönliche Freiheit und demokratischen Rechte, z.B. das Demonstrationsrecht. Besonders beunruhigend an dieser ‚Anti-Corona-Bewegung‘ ist, dass sie eine problematische Allianz bestätigt, die ich seit Beginn der Pandemie beobachte: zwischen Menschen aus der Mittelklasse, Verschwörungstheoretiker*innen und Anhänger*innen der Rechten, sogar offensichtlich der Rechtsextremen. Mich besorgt die Tatsache, dass im Namen der persönlichen Freiheit der Schulterschluss mit Gruppen wie z.B. den sogenannten ‚Reichsbürgern‘ in Kauf genommen wird, auch in meinem direkten Umfeld. Ich sehe eine stille Akzeptanz von Schnittstellen mit rechten Ideologien im Namen eines bestimmten Freiheitsbegriffs. Es geht über die mangelnde Einsicht in die eigenen Privilegien hinaus und hinüber in eine aggressive Bestätigung von ‚white privilege‘. Was bedeutet dieser nicht eingestandene Schulterschluss? Tausende von Menschen versammeln sich während und trotz der Pandemie (vgl. Heidtmann 2020).

Shruti: Das klingt wirklich beunruhigend. Es erinnert mich aber auch an Situationen hier in Indien. Einerseits steigen die Covid-Infektionen alarmierend, während Restriktionen und Lockdowns weitergehen. Andererseits sind manche Tempel geöffnet und tausende von Menschen besuchen sie. Andererseits sind manche Tempel geöffnet und tausende von Menschen besuchen sie, während Schulen und Universitäten geschlossen bleiben, Arbeiter*innen auf Tageslohn-Basis noch immer nicht genug Arbeit finden und auch Theater, Performance und Filmindustrie stillstehen. Privilegien sind wieder das Schlüsselwort. Wohlhabende haben mehr Zugang zu allem, auch zu Medizin und ärztlicher Behandlung. In Indien kostet ein Covid-Test zwei- bis dreitausend Rupien. Wie viele Menschen können für diesen Test zahlen? Ich möchte aber anmerken, wie die Restriktionen auch alternative Bewegungen ermöglichen: Initiativen wie die Fundraiser-Performances, Community-Kitchens, die Menschen mit Essen versorgen, oder Initiativen, die Hilfsgüter in verschiedene Teile Bengalens verteilen. Es spricht so viel für die Mobilität, dafür, neue Netzwerke und Verbindung aufzubauen. Ich denke über Bewegung im weitesten Sinne nach: zu mobilisieren und eine größere Gruppe Menschen zu erreichen. Durch Arkos Konzerte kam ich in Verbindung mit vielen Künstler*innen in verschiedenen Teilen der Welt – auch eine Art von Bewegung!

Sandra: Wie du die Begriffe Mobilität und Mobilisierung verwendest, verbindet die verschiedenen Aspekte unseres Gesprächs, denn die Möglichkeit, Mobilität innerhalb der Restriktionen zu finden, setzt zwar Privilegien voraus, hat aber zugleich auch das Potential, die sozialen Auswirkungen der Restriktionen zu überwinden. Die Kollaborationen, die uns zusammenbringen, sind eines der größten Geschenke dieser Zeit für mich. Darüber nachdenken zu können, dass diese Zeit – eine so akute Krise für so viele – ein Geschenk hervorbringt, ist ein großes Privileg. Ich glaube an Kollaboration, an das, was gemeinsam entstehen kann. Eine Besonderheit der derzeitigen Kollaborationen ist, dass es nicht primär darum geht, eine Performance zu kreieren. Es geht darum, zusammenzuarbeiten und unsere Fähigkeiten und Ressourcen mit einer bestimmten Intention und für einen bestimmten Zweck zu nützen – eine mir neue Art der Zusammenarbeit, die ich als Privileg, als große Veränderung und als Geschenk verstehe.

Im lateinischen Wort ‚immunitas‘ ist die Wurzel ‚munus‘ präsent, ein nur schwer zu übersetzender Terminus, der ‚Tribut, Gabe und Obliegenheit‘ bedeutet, das jedoch im Sinne einer untilgbaren Schuld, einer gegenseitigen Verpflichtung, die unentrinnbar bindend ist. Befreit, entbunden und entpflichtet zu sein, heißt demnach, immun zu sein. Das Gegenteil von immun ist kommun, gemeinsam.
Di Cesare 2020: 48

Shruti: Ein letzter Punkt betrifft noch globale kapitalistische Strukturen: Wir können beobachten, wie stark ein mächtiges Land wie die USA und europäische Länder wie Italien und Spanien betroffen sind im Vergleich zu einem Land wie Kuba. Es gibt viel zu lernen! Wir müssen die Defizite kapitalistischer Strukturen neu denken.

Sandra: Während unseres ganzen Gesprächs denke ich immer wieder an die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak, vor allem wenn sie über „unlearning one’s privileges as one’s loss“ (Spivak 1996: 4) spricht, was einen aktiven Verlern-Prozess impliziert, bei dem es um die selbstkritische Konfrontation mit den eigenen Privilegien geht, welche diese auch sein mögen (vgl. Castro Varela 2017).

Shruti: Ich frage mich, ob ich an Fundraising-Initiativen und der Verteilung von Hilfsgütern an Menschen, die unterprivilegiert sind, in dem Maße teilnehmen würde, wenn wir keine Pandemie hätten. Sie dient als Erinnerung daran, dass wir keine Apokalypse brauchen, um uns an solchen Initiativen zu beteiligen. Was ich mitnehme, sind alternative Kommunikationsweisen, mit unterschiedlichen Communities in Kontakt zu treten, und all die Verbindungen, die geknüpft wurden. Wenn die Pandemie und die Krise vorbei sind, müssen wir an diesen Aspekten weiterarbeiten und die Communities stärken.

Die Bremse wurde gezogen – der Rest liegt bei uns.
Di Cesare 2020: 13

Castro Varela, María do Mar (2017). (Un-)Wissen. Verlernen als komplexer Lernprozess. In: Migrazine. Online Magazin von Migrantinnen für alle. 2017/1.

Di Cesare, Donatella (2020). Souveränes Virus? Die Atemnot des Kapitalismus. Übers. v. Daniel Creutz. Konstanz: Konstanz University Press.

Heidtmann, Jan (2020, 29. August). Im Westen Sit-ins, im Osten Randale. Süddeutsche Zeitung.

Singh, Ritu (2020, 23. Juli). Sacrifce For Education: Himachal Man Sells Cow to Buy Smartphone For Online Studies of His Children. India.com.

Spivak, Gayatri Chakravorty (1996). The Spivak Reader. Hg. v. Landry, Donna/Maclean, Gerald. New York/London: Routledge.

Sandra Chatterjee ist Choreographin und Wissenschaftlerin. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit den Forschungsschwerpunkten Performance, Kultur- und Tanzwissenschaften, Migration sowie Gender- und Postcolonial-Studies erkundet sie die Überschneidungspunkte zwischen Theorie und künstlerischer Praxis.

Shruti Ghosh ist Kathak-Tänzerin, Choreographin und Lehrerin. Sie publiziert in Journalen und Anthologien zu Film, Tanz und Musik.

Ein Autor*innenprojekt zu Besitz, Macht und Hegemonie

Alle Essays sind auch als Buch erschienen:

WER DEUTET DIE WELT?
Josef Kirchner und Theresa Seraphin (Hrsg.)
Verlag: edition mosaik, Salzburg 2020
ISBN: 978-3-9504843-5-9
Preis: 15 €

Erhältlich online bei Liberladen oder auf dem Büchertisch zum Festival in der Rupertus Buchhandlung Salzburg

OPEN MIND Festival Programmheft

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