Ich ist eine Andere
Ich pos(t)e, also bin ich. Die neue Lust an der Selfie-Inszenierung kann man nicht einfach als Narzissmus abtun, sondern man muss ihn als Online-Existenzialismus begreifen. Ich bin, was ich vorgebe zu sein, bestätigt durch die virtuelle Community, deren größte Intimität es ist, als Namen miteinander in Verbindung zu stehen. Doch die Schaffung des Ich mittels sozialer Netzwerke hat nicht nur algorithmische Schattenseiten. So lassen sich problemlos Herkunft und Rollen wechseln, oder eine geschlechtsneutrale Existenz anlegen, die nicht automatischer Diskriminierung ausgesetzt ist. Im echten wie im virtuellen Leben schafft Sprache Identität und Realität. Erst wenn das „Wir“ ein „Ich“ (an)erkennt, nimmt sich dieses als solches wahr und wird wiederum auf dieser Basis definiert, positiv wie negativ. So wird aus einem angesehenen Arzt ein Flüchtling, aus einer aufstrebenden Ingenieurin eine Kampflesbe oder aus einem rechtsextremen Politiker ein besorgter Volksversteher. Wie der französische Dichter Arthur Rimbaud im Jahr 1871 an seinen Freund und Lehrer Georges Izambard geschrieben hat: „Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Man müßte sagen: Ich werde gedacht. […] Ich ist ein anderer. Umso schlimmer für das Holz, wenn es sich als Geige wiederfindet.“
Das Open Mind Festival 2015 „Ich ist eine Andere“ beschäftigt sich mit der Konstruktion von Identität, dem Körper als Kunstund Projektionsfläche. Zwischen künstlerischer Verklärung und realen Abhängigkeiten, Beruf und Berufung, Exklusion und Inklusion, Popkultur und Philosophie, Sex und Gender liegen die auszuleuchtenden Pole. „Ich ist eine Andere“ stellt Fragen zur Identitätsbildung und befasst sich mit den ihr anhaftenden Fantasien, Stereotypen und Machtüberschreitungen sowie mit der Rebellion gegen diese konfliktgeladenen Bereiche.
Zentral für das diesjährige Open Mind Festival ist die Koproduktion „Frankenstein“ mit dem Salzburger Medienkünstler*innen- Kollektiv gold extra. Das Robotertheaterstück widmet sich der Frage, welche menschliche Identität wir entwickeln, wenn wir nach den Bauplänen unserer Maschinen geschaffen werden. Wie wird der Mensch von morgen konstruiert, wie wird zukünftiges Menschsein definiert, wenn einerseits die Freiheit, über die äußere Erscheinungsform zu entscheiden, immer größer und andererseits der Übergang zum Maschinellen fließender wird? Spielerisch und humorvoll kommen gold extra in „Frankenstein“ den Fragen nach zukünftiger „Lebensqualität“ nahe.
In der zweiten Festival-Produktion, der Solo-Performance „A Duet“, verhandelt die indische Tänzerin und Choreographin Nayana Keshava Bhat die Unzulänglichkeit der gegenseitigen Wahrnehmung. In Indien geboren und inzwischen in Salzburg lebend, wurden Bhat mehr als einmal kulturelle Stereotype übergestülpt, um sie einordnen zu können. In den zusammen mit dem Lichtdesigner Robert Herbe entwickelten Geschichten werden die damit verbundenen Widersprüche offenkundig.
Allen Programmpunkten des Festivals gemeinsam ist die Suche nach der eigenen Identität, die nie abgeschlossen sein kann, aber erfolgreicher verlaufen kann, wenn sie sich nicht an den Maßstäben der „Anderen“ orientiert.
Cornelia Anhaus, Kuratorin Open Mind Festival
Das Faltplakat zum Open Mind Festival 2015 als PDF.
„Kultur macht Thema“ ist seit 2009 Leitfaden des Open Mind Festivals, mit dem die ARGEkultur das Selbstverständnis von Kunst und Kultur als Kristallisationspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragen sichtbar machen will. Es ist die Quintessenz der drei programmatischen Grundprinzipien des Mehrsparten-Kulturzentrums – Produktionshaus, Veranstalterin und Netzwerktätigkeit – ein Konzentrat der künstlerischen Idee des Jahresprogramms der ARGEkultur, das unterschiedliche künstlerische und diskursive Zugänge unter einem annual wechselnden Motto präsentiert. Zentral sind die jeweiligen Koproduktionen, die originär für das Festival erarbeitet werden.